„Agenturen haben eine Heidenangst vor ihren Kunden“ Agenturberater Michael Farmer über die Krise der Marketing- und Werbeagenturen

Der Amerikaner Michael Farmer ist mit allen Wassern der Madison Avenue gewaschen, der Wiege der amerikanischen Werbung. Als Top-Berater hat er in den letzten 30 Jahren miterlebt, wie sich die Agenturszene radikal verändert hat. Seine Schlussfolgerung? Wir arbeiten immer mehr – für immer weniger Geld. Und wer sich nicht mit seinem Geschäftsmodell auseinandersetzt, ist erledigt. Festhalten, es könnte unangenehm werden.

Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 1 des Magazins Agency Life, das im Juli veröffentlicht wurde. Wir sind derzeit damit beschäftigt, Ausgabe 2 zu produzieren. Das Magazin wird im Januar 2025 veröffentlicht und Sie können es hier vorbestellen.

Wer ist Michael Farmer? 

  • Hat als Analyst bei McKinsey angefangen.
  • Arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Berater für Agenturen wie FCB, Ogilvy, DDB und TBWA.
  • Fasste seine Erfahrungen in den Büchern „Madison Avenue Manslaughter“ und „Madison Avenue Makeover“ zusammen, in denen er die Probleme der Agenturen aufzeigt und auch Lösungen anbietet.
  • Leitet heute den Wandel bei Agenturen ein.

Willst du mehr über Michaels Erkenntnisse erfahren oder dich selbst mit Leistungsumfängen ans Werk machen?

In seinen Büchern  „Madison Avenue Manslaughter“ und „Madison Avenue Makeover“ entdeckst du mehr praktische Tipps, wie du den Wandel in deiner Agentur einläuten kannst. Und natürlich in seine Agency-Life-Podcasts. Die findest du hier

Eine Branche im Niedergang

„Die Branche ist am Ende.“ Wir mussten erst einmal tief durchatmen, als Michael Farmer im Agency-Life-Podcast den Zustand der Marketing- und Werbebranche skizzierte. Dass KI, Arbeitsbelastung und ständig sinkende Honorare für etliche Herausforderungen sorgen, wissen wir alle längst. Doch der größte wunde Punkt ist laut Farmer das Nichtwissen: Keine Ahnung zu haben, was man leistet, produziert, arbeitet. 


„Ich habe 30 Jahre lang Agenturen auf der ganzen Welt analysiert und bin zu dem Schluss gekommen, dass keine Agentur vernünftige Leistungsumfänge ausarbeitet. Sie verhandeln Honorare, ohne auf ihren Output zu achten. Schlimmer noch: Sie wissen meist nicht genau, wie viel Arbeit sie für einen bestimmten Kunden leisten. Das ist doch absurd, oder?“

„Nicht zu wissen, wie viel Arbeit die Agentur für einen Kunden leistet: Das ist doch absurd, oder?“

„Zudem leisten Agenturen immer mehr für weniger Geld“, so Farmer weiter. „Und es sieht nicht so aus, als könnten sie das Blatt so bald wenden. Agenturen sind in ihrer Beziehung zu Kunden so unsicher, dass sie schnell in eine ausführende, gefällige Rolle schlüpfen. Sie trauen sich nicht, ihre Kunden mit der Menge an Arbeit zu konfrontieren, die sie für das geringe Honorar leisten, das sie erhalten. Die Angst ist groß, Kunden zu verlieren. Aber was erleben wir dann? Selbst Agenturen, die unterwürfig daherkommen, werden alle 3 Jahre vor die Tür gesetzt. Das geht schon über 20 Jahre so.“

Du bekommst lieber was auf die Ohren? 

In den Agency-Life-Podcasts „Überlebenskampf in der Agenturwelt: anpassen oder untergehen“ und „Wie können Agenturen zum wirtschaftlichen Mitgestalter werden?“ schildert Michael seine Erkenntnisse in leuchtenden Farben und einem kernigen Midwestern-Akzent.

Der Weg zu neuen Leistungsumfängen

Agenturen sollten schnellstmöglich beginnen, sich einen Überblick über ihre Tätigkeiten verschaffen und sie ihrem Wert entsprechend verkaufen, meint Farmer. Deshalb entwickelte er gemeinsam mit Agenturen ein System, um das kreative Arbeitspensum besser abzubilden: die Scope Metric Unit. Sie gibt an, wie viel kreativen Aufwand eine bestimmte Leistung durchschnittlich erfordert. Geht es um einen TV-Spot, ein Banner oder eine E-Mail? Handelt es sich um ein neues Konzept oder eine Anpassung? Welche komplexen Sachverhalte erschweren den Auftrag?

„Mit diesen Scope Metric Units verschaffen wir uns einen viel besseren Überblick über die Arbeit der Kreativen“, so Farmer weiter. „Dann können wir den gesamten Leistungsumfang für einen Kunden viel besser definieren und beginnen, unsere kreative Arbeit als verschiedene Produkte zu verkaufen. Möchte ein Werbetreibender zehn Deliverables? Dann kostet das so viel. Das ist viel deutlicher als eine vage Schätzung von Stunden, die sich fast immer als falsch erweisen.“ 

Schwindelerregende Zahlen

„Als ich 1992 meinen ersten Beratungsauftrag von Ogilvy erhielt, hatten die Agentur etwa 20 Kunden“, sagt Farmer. „Es gab 50 Kreative: 25 Teams mit einem Copywriter und einem Art Director. Die bearbeiteten etwa 380 Projekte pro Jahr, hauptsächlich Fernsehspots, aber auch Printanzeigen und Radio. Alles kreative Neuschöpfungen. Und all das wanderte über den Schreibtisch des Creative Director, der jede Idee und Ausarbeitung akribisch beurteilte. Nichts ging an einen Kunden raus, bevor es perfekt war. 

Fast forward bis heute. Ich sitze wieder in einer Ogilvy-Agentur. Wieder umringt von 50 Kreativen. Jetzt haben sie es aber mit 15 000 Deliverables zu tun: Facebook- und Instagram-Posts, Online-Videos, Banner, E-Mail-Marketing und etliches mehr. Unter diesen 15 000 Deliverables sind 2000 mit kreativen Ideen, die anderen 13 000 sind Anpassungen. Die Agentur ist also eine Fabrik geworden, wo jeden Monat Tausende Stücke vom Band laufen. Überhaupt nicht mehr zu bewältigen.“

Die unbequeme Wahrheit hinter Preisgestaltung und „Wert“

Neue Leistungsumfänge: okay. Aber sollten wir auch unseren Preisansatz ändern oder zu einem Modell der wertorientierten Preisgestaltung übergehen? Farmer sieht das nicht so. „Wertorientierte Preisgestaltung ist nur dann sinnvoll, wenn die Arbeit auch tatsächlich wertschöpfend ist. Wenn Kunden wachsen und mehr Gewinn machen. Aber wie sieht die Realität aus? Viele Werbetreibende wachsen einfach nicht. Der Claim einer Agentur, einen Kunden wachsen zu lassen, ist somit häufig Bullshit.“  

„Agenturen sind nervös, überarbeitet und stehen unter ständigem Druck ihrer Holdings und Kunden.“

Farmer: „Die Kunden haben das auch schon gemerkt. Deshalb wechseln sie die Agentur ständig.“ Heutzutage sollte sich eine Agentur fair für ihre geleistete Arbeit bezahlen lassen. Und wenn eine Kampagne ein Unternehmen wachsen lässt, verlangt sie im folgenden Jahr einfach ein höheres Honorar. Beratungsunternehmen machen das schon seit 40 Jahren so.“

Die Zeit drängt

Übrigens sollten die Agenturen lieber nicht zu lange damit warten, ihre Arbeit wertzuschätzen, ihre Preisgestaltung zu korrigieren und ihre Geschäftsstrategie anzupassen. Farmer: „Werbetreibende werden KI nutzen, um (Teile der) Agenturarbeit selbst zu übernehmen. Die gute Nachricht: Dieser Trend zwingt Agenturen dazu, sich neu zu erfinden und auf ein Modell der Produktisierung und besseren Preisgestaltung umzustellen. Nur so können sie sich vor dem drohenden KI-Sturm schützen.“ 

„Kunden haben nicht das Gefühl, dank ihrer Agentur zu wachsen. Deshalb wechseln Sie die Agentur ständig.“

Der Wendepunkt

Höchste Zeit also für Veränderungen, meint Farmer. „Wir sind nämlich an einem Wendepunkt angelangt. Heute sind Agenturen Dienstleister: nervös, überlastet und ständig unter Druck der Kunden und der großen Konzerne, zu denen sie gehören. Damit gerät auch ihr wichtigster Mehrwert unter Druck: die Kreativität selbst. Kreativität kann sich nur entfalten, wenn wir ein gesundes Umfeld für sie schaffen. Das besteht heute nicht. Schade, denn Kreativität ist und bleibt das Flaggschiff der Branche. 

Vielleicht sollten Agenturen auch einfach aufhören, sich Agenturen zu nennen. Dieser Begriff ist kontaminiert. Agenturen müssen sich neu positionieren – als Wachstumspartner. Es ist an der Zeit, wieder eine ausgewogene Beziehung zu den Kunden aufzubauen.“

Entlarvung des Wertmythos anhand von Burger King

Lassen wir unsere Kunden wirklich wachsen mit dem, was wir machen? Laut Michael Farmer könnten sich Agenturen diese Frage ruhig häufiger stellen. Als Beispiel nennt er Burger King: „BK-Werbung hat so oft Preise gewonnen. Aber selbst das kreativste Genie kann erkennen, dass diese Anzeigen nichts an dem betrieblichen Chaos in diesem Unternehmen ändern. Filialschließungen, schlechtere Umsätze als bei McDonald's … 

Strukturelle Probleme eines Unternehmen können wir nicht einfach mit einer kreativen Kampagne wegzaubern. Hätte sich die Agentur nur die Frage gestellt, wie sie mit einer Kampagne Wachstum bei Burger King auslösen könnte. Dann hätte sie sich vielleicht etwas ganz anderes einfallen lassen.“ 

Den Wandel ins Rollen bringen

Kurz und bündig: Wer keine Langfriststrategie ausarbeitet, für den ist es laut Michael Farmer aus und vorbei. „Das Topmanagement der Agentur muss sich zusammensetzen und sie entwickeln“, schließt Michael. „Das ist kein Kinderspiel: Du musst am Flugzeug basteln und es gleichzeitig in der Luft halten. Nicht alle werden zufrieden sein, aber das ist in Ordnung: Wo gehobelt wird, fallen Späne … 

Und die Kunden, sind sie bereit, Neuland zu betreten? Farmer räumt mit einem letzten Missverständnis auf: „Die Kunden sind vielleicht eher bereit als die Agenturen. Ich stelle fest, dass sie jetzt auf breiter Front beginnen zu diskutieren: Wie können wir noch wachsen? Wie können wir unsere Agenturen eine wertvolle Rolle spielen lassen? Agenturen sollten diese Fragen ernst nehmen. Sie müssen sich trauen, Arbeiten zu streichen, die sich nicht auszahlen. Pitchen auf Partnerschaft und für Markenwachstum plädieren. Nur auf diesem Weg geht es gemeinsam voran.“ 

„Die Kunden wünschen sich wirklich eine andere Art der Beziehung zu ihrer Agentur.“

Nach Gold schürfen: neues Geschäftsmodell in 4 Schritten

Du willst deine Agentur zukunftssicher machen. Aber fängt man da an?

  1. Sieh dir dein Kundenportfolio genau an, sei ganz ehrlich und frage dich: Bringt das, was wir machen, unsere Marken weiter? Setzen wir als Agentur heute unsere Ressourcen in Bezug auf Kreativität, Strategie, Umsetzung, Produktion und vieles mehr voll dafür ein, unsere Kunden wachsen zu lassen?
  2. Nimm den Dialog auf und entwickle eine neue Art der Partnerschaft mit deinem Kunden. Agenturen erledigen zu viele ausführende Arbeiten und bleiben einer dienenden Rolle verhaftet. Entscheide neu, welche Medien ein Kunde nutzen sollte, welche Budgets zur Verfügung stehen und auf welche Weise du Marken wieder wachsen lassen kannst. Wenn du mit dem Kunden die Zügel in die Hand nimmst, stellst du eure Beziehung auf eine andere Basis. 
  3. Mache eine Bestandsaufnahme deiner Agentur: Für wie viele Kunden arbeiten wir? Ist die Arbeitsbelastung gut verteilt? Sind unsere Beschäftigten glücklich? Wie sieht es mit dem Umsatz aus? Setze die Änderungen eine nach der anderen um.  
  4. Starte mit „Produktisierung“: Als Agentur musst du wissen, wie viel Arbeit du ablieferst, und du brauchst dafür eine vernünftige Vergütung. Schluss mit Vermutungen oder Schätzungen: Erarbeite klare Arbeitsumfänge und verwende dazu die richtigen Parameter wie Scope Metric Units.

Lässt generative KI alle Jobs der Agentur in Rauch aufgehen oder sind die Auswirkungen gar nicht so schlimm? 

„Mit dem Aufmarsch der KI steht die Bude in Flammen. Besser wäre, sofort Vorsorge zu treffen.“ Schon im Agency-Life-Podcast hat Michael Farmer vor den Folgen der KI gewarnt, aber wie sollte eine Agentur damit umgehen? Eine Antwort suchten Raymond Muilwijk (iO, Belgien/Niederlande) und Frederik De Bosschere (In The Pocket, Belgien) im Teamleader-Podcast „KI intelligent in deine Agentur integrieren, wie geht das?“ Hier hörst du dir das Gespräch auf Niederländisch an.  

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